Sehr geehrter Herr Minister Dr. Buschmann,
als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen bitten wir Sie eindringlich, Ihr Versprechen auf eine Reformierung des § 265a StGB schnellstmöglich einzulösen. Wir möchten Sie in diesem Brief auf die tiefgreifenden Probleme der derzeitigen Rechtslage hinweisen und aufzeigen, wie eine konsequente Entkriminalisierung des sogenannten Erschleichens von Leistungen armutsbetroffene Bürgerinnen
und Bürger, Behörden und Justiz entlasten wird.
Die Unterzeichnenden fordern eine konsequente Entkriminalisierung des § 265a StGB. Eine Vielzahl an Argumenten spricht dafür:
- Der Unrechtsgehalt ist gering: Für das „Erschleichen von Leistungen“ bedarf es lediglich einer Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr ohne gültigen Fahrausweis. Es müssen keinerlei Barrieren oder andere Hindernisse überwunden werden. Darüber hinaus ist der Schaden pro Fahrt ohne gültiges Ticket marginal. Zugleich haben die Verkehrsunternehmen durch das erhöhte Beförderungsentgelt in Höhe von i.d.R. 60 Euro einen zivilrechtlichen Anspruch gegen die betroffenen Personen, der die Höhe des Schadens in aller Regel bei weitem übersteigt.[1]
- Der Straftatbestand trifft überproportional armutsbetroffene Menschen und solche in prekären Lebenslagen: Wobei die Strafen – insbesondere aufgrund der hohen Zahl der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen – für die betroffenen Personen schwerwiegende und unverhältnismäßige Konsequenzen haben (wie bspw. Wohnungsverlust). Laut aktuellen Studien gehen 25 % der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen auf Fahren ohne Fahrschein zurück.[2] Hinzu kommt, dass die Handlungen der Betroffenen nicht von krimineller Energie, sondern von faktischen Zwängen (der Zahlungsunfähigkeit) zeugen. Der Großteil der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe aufgrund von Fahren ohne Fahrschein verbüßen, ist arbeitslos. Zusätzlich ist etwa jede dritte Person drogenabhängig. Bis zu jeder fünfte Betroffene hat keinen festen Wohnsitz.[3]
- Bei der „Beförderungserschleichung“ handelt es sich um ein Massendelikt: Das Fahren ohne Fahrschein ist eine der häufigsten Bagatellstraftaten. Im Jahr 2023 gab es 148.218 Fälle des § 265a StGB. Das sind rund 3 % der Gesamtkriminalität.[4[ Mit der Qualifizierung als Massendelikt und der großen Anzahl an Ersatzfreiheitsstrafen geht eine hohe personelle und finanzielle Belastung des Staats einher. So zeigen Berechnungen, dass die Strafverfolgung von § 265a StGB den Staat jährlich mindestens 114 Millionen Euro kostet.[5[ Diese Ressourcen fehlen an anderen Stellen.
- Auch der breite Rückhalt für die Entkriminalisierung in der Bevölkerung ist ein zentrales Argument für eine zeitnahe Umsetzung der Reform: Umfragen zufolge befürworten 55 % bis 70 % der Bevölkerung die Forderung nach einem Ende der Inhaftierungen wegen Fahrens ohne Fahrschein.[6] Inzwischen haben bereits elf deutsche Städte bzw. regionale Verkehrsbetriebe beschlossen, das wiederholte Fahren ohne Ticket nicht mehr zur Anzeige zu bringen (u.a. Bremen, Dresden, Karlsruhe und Köln).[7]
Kurzum: Der geringe Unrechtsgehalt der Tat sowie die massiven negativen Effekte in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht gebieten die ersatzlose Streichung des § 265a StGB.
Eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit reicht nicht aus!
Bei der ausstehenden Reform sollte jedoch nicht der Fehler gemacht werden, den Straftatbestand durch eine Ordnungswidrigkeit zu ersetzen. Die positiven Folgen der Entkriminalisierung würden so abgeschwächt und erhebliche Belastungen für Betroffene und die Behörden blieben bestehen. Folgende Aspekte sprechen gegen die Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit:
- Bei einer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit besteht die Gefahr, dass Menschen, die sich eine Fahrkarte und folgend das Bußgeld nicht leisten können, über die Erzwingungshaft inhaftiert
werden.[8] Diese kann bis zu sechs Wochen (für einen Bußgeldbescheid) beziehungsweise drei Monate (für mehrere Bußgeldbescheide) angeordnet werden. Wie viele Tage Haft aus einem Geldbetrag
resultieren, liegt im Ermessen der Richterinnen und Richter. Während manche etwa einen Tag Haft pro 20 Euro anordnen, ist anderen ein Tag Haft 80 Euro wert. Auch die Erzwingungshaft trifft
insbesondere mittellose Menschen.
Zwar kann Erzwingungshaft nur angeordnet werden, wenn die Person nicht zahlungsunfähig ist. Dies nachzuweisen ist allerdings für die Gruppe der Betroffenen, die psychisch und physisch hochgradig belastet ist, kaum leistbar. - Die Klassifizierung von Fahren ohne Fahrschein als Ordnungswidrigkeit wäre mit einem großen Verwaltungsaufwand und Kosten verbunden. Die Einsparungen durch die Entkriminalisierung würden somit vermutlich nicht zu Buche schlagen. Möglicherweise müsste eine neue Behörde geschaffen werden.[9] Damit würde lediglich die Stelle ausgetauscht, eine geringere personelle oder finanzielle Belastung ginge damit nicht einher.
- Weder die Ordnungs- noch die Strafverfolgungsbehörden sind dafür da, private Forderungen einzutreiben. Im Wesentlichen handelt es sich um einen zivilrechtlichen Konflikt, nicht um eine strafrechtliche Angelegenheit. Der Zivilrechtsweg ist ein effektives und ausreichendes Mittel, auf den auch sonst Gläubigerinnen und Gläubiger verwiesen werden. Bei Nichtzahlung übergeben Verkehrsunternehmen den Fall i.d.R. an ein Inkassounternehmen, um das Geld einzutreiben. Dabei summieren sich schnell hohe Mahn- und Inkassogebühren und es erfolgen Meldungen und Einträge bei der Schufa, welche die Kreditwürdigkeit der Betroffenen herabstuft. Das wiederum erschwert die Teilnahme am Warenverkehr und die Suche nach Wohnraum.10 Nur wenige Menschen setzen sich freiwillig dem Risiko dieser weitreichenden Folgen aus. Für zahlungsfähige Fahrgäste ist der Kauf eines gültigen Tickets immer noch sehr vorteilhaft.
Unter diesen Umständen halten wir eine ersatzlose Streichung des § 265a StGB für angebracht. Verschiedene städtische Verkehrsbetriebe, die sich entschieden haben, auf eine Strafanzeige zu verzichten, wenn es zu Fahrten ohne gültigen Fahrschein kommt, haben bereits gezeigt, dass dies möglich ist.
Aufgrund der aufgeführten Argumente bitten wir Sie, Justizminister Buschmann, um eine zeitnahe Reformierung des § 265a StGB unter Berücksichtigung unserer Hinweise. Als Expertinnen und Experten aus den Bereichen Kriminologie, Strafrechtswissenschaft, Mobilitäts- und Stadtforschung sowie weiterer Disziplinen appellieren wir an Sie, die derzeitige Gesetzeslage in puncto „Fahren ohne Fahrschein“ schnellstmöglich zu überarbeiten. Nur so können Sie das derzeitige Unrecht, dem insbesondere Menschen in prekären sozialen und ökonomischen Lebenslagen ausgesetzt sind, beenden. Eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit ist nicht zielführend. Wenn Menschen nicht in der Lage sind, Tickets für den öffentlichen Personennahverkehr zu bezahlen, kann das Strafrecht nicht die Lösung sein. Vielmehr braucht es eine Senkung der Fahrpreise oder die Ausgabe von Sozialtickets, um auch Menschen in prekären Lebenslagen die Teilhabe am ÖPNV zu ermöglichen.
Gern stehen wir Ihnen fachlich zur Seite, um den Prozess hin zu einer zielführenden und zeitgemäßen Reformierung des Strafgesetzbuches zu unterstützen.
Dr. Nicole Bögelein
Kriminologie
Universität zu Köln
Mit-Verfasserin
Luise Klaus
Stadtgeographie
Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Mit-Verfasserin
[1] Im Jahr 2021 lag die Schadenshöhe in 72,5% der erfassten Fälle unter 15 Euro (PKS 2021 Tab. 07)
[2] Lobitz/Wirth 2019, S. 11 https://www.justiz.nrw.de/Gerichte_Behoerden/landesjustizvollzugsdirektion/statistik_und_forschung/projekte_des_krimd_/2_54---2018_03_28-EFS_Abschlussbericht-Versandfassung-JM_Anlage-Bericht-Arbeitsgruppe.pdf
| Bögelein, N./Glaubitz, C./Neumann, M. & Kamieth, J. (2019): Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 102, Heft 4, S. 282-296; S. 290
[3] Lobitz/Wirth 2019, S. 23
[4] Siehe Bundeskriminalamt (2024): Polizeiliche Kriminalstatistik 2023. Wiesbaden
[5] Siehe Bögelein/Wilde (2023): Der Rechtsstaat und das Fahren ohne Fahrschein – Was kostet den Staat die Verfolgung von §265a StGB? In: Kriminalpolitische Zeitung. https://kripoz.de/2023/09/20/der-rechtsstaat-und-das-fahren-ohne-fahrschein-
%C2%A7-265a-stgb-was-kostet-die-verfolgung-eines-umstrittenen-straftatbestands/
[6] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/fahren-ohne-fahrschein/;
https://de.statista.com/infografik/32119/anteil-der-befragten-die-folgende-ahndung-fuer-schwarzfahren-fuer-angemessen-halten/
[7] https://freiheitsfonds.de/#cities
[8] Nach §§ 96 ff. des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG)
[9] Vgl. Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages zum Gesetzentwurf der LINKEN zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein (BT-Drs. 20/2081) |
https://kripoz.de/wp-content/uploads/2023/06/Stellungnahme-Zapf_DRB-FoF.pdf